IV. Gedichte
1. Theodor Kramer (* 1. Jänner/Januar 1897 in Niederhollabrunn/Niederösterreich; gestorben am 3. April 1958 in Wien) war ein jüdischer, österreichischer Lyriker.
Andre, die das Land so sehr nicht liebten
War'n von Anfang an gewillt zu geh'n
Ihnen – manche sind schon fort – ist besser
Ich doch müsste mit dem eig'nen Messer
Meine Wurzeln aus der Erde dreh'n!
Keine Nacht hab' ich seither geschlafen
Und es ist mir mehr als weh zumut –
Viele Wochen sind seither verstrichen
Alle Kraft ist längst aus mir gewichen
Und ich fühl', dass ich daran verblut'!
Und doch müsst ich mich von hinnen heben –
Sei's auch nur zu bleiben, was ich war
Nimmer kann ich, wo ich bin, gedeihen
Draußen braucht ich wahrlich nicht zu schreien
Denn mein leises Wort war immer wahr!
Seiner wär ich wie in alten Tagen
Sicher; schluchzend wider mich gewandt
Hätt' ich Tag und Nacht mich nur zu heißen –
Mich samt meinen Wurzeln auszureißen
Und zu setzen in ein andres Land!
Andre, die das Land so sehr nicht liebten
War'n von Anfang an gewillt zu geh'n
Ihnen – manche sind schon fort – ist besser
Ich doch müsste mit dem eig'nen Messer
Meine Wurzeln aus der Erde dreh'n!
Zitiert nach Andre, die das Land so sehr nicht liebten - Deutsche Lyrik Zugriff vom 27.11. 2023
1. Theodor Kramer (* 1. Jänner/Januar 1897 in Niederhollabrunn/Niederösterreich; gestorben am 3. April 1958 in Wien) war ein jüdischer, österreichischer Lyriker.
2. Zofia Romanowicz (geborene Zofia Górska; geboren am 18. Oktober 1922 in Radom, gestorben am
28. März 2010 in Lilly en Val/Frankreich) war eine polnische Schriftstellerin und Übersetzerin, die nach dem
2. Weltkrieg nach Frankreich emigrierte. Während des Krieges diente sie dem polnischen Widerstand als
Kurierin, wurde 1941 verhaftet und kam in verschiedene Konzentrations- und Arbeitslager, u.a. nach Ravensbrück.
Zofia Górska
Erster Augenblick – Abschied
Fasst mich nicht an den Händen, schaut mir nicht in die Augen,
Sucht mir keinen Trost und heißt mich nicht glauben
Auf mir liegt ein schlimmer Schatten, es hält mich ein böser Kreis.
Ich werde es tragen müssen.
Alleine, wie ich weiß.
Ich bin allein. Niemand hilft mir mit Worten.
Allein trage ich das grausame Warten.
Und eh die Stunde kommt, mich zu töten,
Gehe ich ihr allein entgegen.
Lebt wohl und geht … Lasst mich allein.
Spür ich auch Tränen, ich weine nicht, nein.
Schon wartet,
Schon ruft mich mit offenen Toren
der Garten.
Nachdichtung: Gabriele Kammerer
Zitiert nach arbeitsblatt_04-02_abschied.pdf (annalise-wagner-stiftung.de) Zugriff vom 27.11. 2023
3. Nelly Sachs (eigentlich Leonie Sachs, geboren am 10. Dezember 1891 in Schöneberg (heute Berlin)
und gestorben am 12. Mai 1970 in Stockholm). Sie war eine jüdische Schriftstellerin und Lyrikerin,
Nelly Sachs erhielt 1966 den Nobelpreis für Literatur, gemeinsam mit Samuel Joseph Agnon.
Nelly Sachs
Chor der Geretteten
Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich -
Unsere Leiber klagen noch nach
Mit ihrer verstümmelten Musik.
Wir Geretteten,
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht
Vor uns in der blauen Luft -
Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.
Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.
Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sonst eines Vogels Lied,
Das Füllen des Eimers am Brunnen
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen
Und uns wegschäumen -
Wir bitten euch:
Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund -
Es könnte sein, es könnte sein
Daß wir zu Staub zerfallen -
Vor euren Augen zerfallen in Staub.
Was hält denn unsere Webe zusammen?
Wir odemlos gewordene,
Deren Seele zu Ihm floh aus der Mitternacht
Lange bevor man unseren Leib rettete
In die Arche des Augenblicks.
Wir Geretteten,
Wir drücken eure Hand,
Wir erkennen euer Auge -
Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied,
Der Abschied im Staub
Hält uns mit euch zusammen.
Zitiert nach Chor der Geretteten (1946) - Deutsche Lyrik Zugriff vom 27.11. 2023