Stadt Beverungen

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Drei Frauen – drei Schicksale

I

Else Grünewald
Else Grünewald wurde am 10.6.1898 in Göttingen geboren, ihre Eltern waren Siegmund und Julia Sara Wronke. 1923  heiratete sie den Beverunger Kaufmann Sally Grünewald, der zwei Töchter aus seiner ersten Ehe mit Regine Grünewald, geb. Katz besaß. Bereits kurz nach der Geburt der zweiten Tochter Ruth starb Regine Grünewald am 18. Juni 1922. Die älteste Tochter hieß Gerda (*10.04.1920), aus der Ehe mit Sally Grünewald stammte dann die dritte und jüngste Tochter Eva (*1.11.1924). Auf den Fotos sieht man Sally Grünewald sowie seine drei Töchter Gerda, Ruth und Eva (von links).

Der Großvater Cossmann Grünewald hatte in Beverungen ein Kaufhaus eröffnet, das sich in der damaligen Marktstraße, an der Ecke Lange Straße befand. Sally Grünewald führte diese Handelstätigkeit fort. Unter dem Namen C. Grünewald wurden auch Postkarten vertrieben und vor dem Geschäft befand sich eine der ersten Tanksäulen in der Weserstadt. Auf der alten Postkarte oben ist rechts die Tanksäule sowie ein Teil des Geschäftshauses zu sehen.

Sally Grünewald engagierte sich im öffentlichen Leben der Stadt, seine zweite Frau Else (hier mit zwei Töchtern, rechts Ruth, links Eva), gab Klavierunterricht und spielte auch auf Konzerten.

Nachdem Adolf Hitler im Januar 1933 Reichskanzler geworden war, veränderte sich das Leben für die jüdischen Bürger der Weserstadt. Am 1. April 1933 sah die Tochter Ruth auf dem Rückweg aus der Schule erstmals SA-Männer vor dem Kaufhaus Grünewald, es war der erste Boykott des Geschäftes ihres Vaters. Auf die nahe gelegene Synagoge wurde aus der Burg, damals SA-Schule, geschossen. Else Grünewald verlor nach und nach den größten Teil ihrer Klavierschülerinnen, auch die Geschäfte ihres Mannes gingen zunehmend schlechter.

Das Wohnhaus der Familie Grünewald befand sich direkt neben dem sogenannten “Braunen Haus“ Beverungens, dem Sitz des ersten NSDAP-Ortsgruppenleiters Ferdinand Gocke. Eines Abends kam die Mutter des Ortsgruppenleiters zur Familie Grünewald, um sie vor der weiteren Entwicklung zu warnen. Angesichts der sich zunehmend verschlechternden politischen und wirtschaftlichen Situation entschloss sich das Ehepaar Grünewald notgedrungen zur Auswanderung, und zwar nach Argentinien, weil dort bereits Artur Grünewald, ein Bruder des Vaters, (siehe Foto) lebte.

Am 31.7. 1936 begann die erzwungene Reise in das ferne Land. Zunächst mussten jedoch noch zahlreiche Bescheinigungen und Dokumente eingeholt werden, z.B. ein Leumunds- und ein Gesundheitszeugnis, die beiden jüngeren Töchter wurden im Pass von Else Grünewald eingetragen.

Wie so viele andere Juden, die zur Migration gezwungen wurden, waren die Grünewalds entwurzelt, kamen aus dem kleinen Landstädtchen Beverungen in die anonyme Großstadt Buenos Aires, in ein fremdes Land, mit einer ihnen noch unbekannten Sprache, die sie erst erlernen mussten.

Bereits 1954 starb Sally Grünewald, während seine Frau Else noch bis zum hohen Alter von 93 Jahren in Buenos Aires lebte und dort am 14.10.1991 verstarb.

Im Januar 2023 wurden vor dem ehemaligen Geschäftshaus zur Erinnerung an die Familie Grünewald Stolpersteine verlegt.

II

Margarete Rose

Margarete Rose war die Tochter des Fabrikanten-Ehepaares Leopold und Rebecca Kohlberg und wurde am 30.11.1885 in Beverungen geboren. Ihr Großvater Jacob Lehman Kohlberg, der aus Herstelle stammte, hatte 1847 in Beverungen zunächst eine Holz- und Getreidehandlung errichtet, deren Lager sich unter anderem an der Weser befand. 1880 wurde die Holsteinsmühle umgewandelt in eine Holzwarenfabrik. Nach dem Tod des Vaters führte Margaretes Bruder Ludwig Kohlberg die Fabrik weiter.

Seine Schwester Margarete besuchte ein Lyzeum in Holzminden und war mit der wenig jüngeren Irma Rose befreundet. Da Margarete häufiger die Familie ihrer Freundin besuchte, lernte sie dort Ernst Rose, den älteren Bruder von Irma, kennen, welcher in Lauenförde eine Ausbildung bei seinem Onkel Hermann Löwenherz absolvierte, und heiratete ihn schließlich.

Das Ehepaar wohnte in Beverungen, allerdings kamen ihre vier Kinder in Göttingen zur Welt: Charlotte (10.10.1907), Gertrud (19.10.1908), Hans-Joachim (30.03.1913) und schließlich als „Nesthäkchen“ Rosemarie Rose (11.12.1920). Die Schwestern Charlotte und Gertrud Rose lassen sich in den zwanziger Jahren als Schülerinnen des Hainberg-Gymnasiums nachweisen Margarete war in diesen Jahren als Hausfrau tätig, im Haushalt gab es jedoch offenbar auch eine Art „Kindermädchen“, wie ein frühes Familienbild  zeigt.

Im Lauf der 20er  Jahre entfremdete sich das Ehepaar, die endgültige Trennung erfolgte 1927; während Margarete Rose mit ihren Töchtern nach München zog, bewohnte Ernst Rose eine Suite in Gebhardts Hotel in Göttingen.

Margarete Rose kehrte erst 1938 nach Beverungen zurück und wohnte dort mit einem Teil ihrer Kinder in der Ökonomie der Firma Rose im Grünen Weg. Dort erlebte sie die zunehmende Entrechtung und Verfolgung der Juden. Sie wurde beschimpft, bespuckt und bestohlen, selbst das Wohnhaus versuchte man in Brand zu setzen. Es gab zudem Schikanen jeglicher Art. Da ihnen beispielsweise nur noch eine geringe Zeit für Einkäufe gewährt wurde, schickte die jüngste Tochter Rosemarie, die zu diesem Zeitpunkt bereits ein Internat in der Schweiz besuchte, ihr Fahrrad nach Beverungen, mit dem die relativ weite Entfernung vom Grünen Weg zu den Geschäften der Innenstadt schneller zurückgelegt werden konnte. Margarete Rose musste erleben, wie im Zuge der „Reichspogromnacht“ 1938 auch ihr Sohn Hans-Joachim sowie ihr Bruder Ludwig für einige Wochen ins KZ Buchenwald eingeliefert wurden.

Die Familie von Margarete Rose wurde in der Shoah fast völlig ausgelöscht. Ihr früherer Mann Ernst nahm sich angesichts der Zwangsarisierung seiner Firma am 1.1.1939 in Hamburg selbst das Leben. Zu diesem Zeitpunkt lebte Margarete in Beverungen nur noch allein mit ihrer Tochter Gertrud sowie dem Sohn Hans-Joachim. Alle drei wurden von Bielefeld aus am 10.12.1941 in das Ghetto Riga deportiert. Ob Margarete gleich dort oder später in einem anderen Konzentrationslager ermordet wurde, ist nicht bekannt. Nach dem 2. Weltkrieg wurde sie für tot erklärt.

III

Martha Mannsbach

Martha Mannsbach, geborene Davids, stammte aus Krefeld und wurde dort am 28.10.1893 geboren. Ihre Eltern hießen Max und Julie Davids und sie war das zweitälteste Kind. Ihre Mutter verstarb 1936 in Krefeld, der Vater 1943 im KZ Theresienstadt. Sie hatte drei Schwestern Johanna, Paula und Luise, alle drei wurden in unterschiedlichen KZs umgebracht. Es gab auch einen jüngeren Bruder Walter, der jedoch nie heiratete. Zwar kam auch er 1938 für kurze Zeit ins KZ Dachau, konnte dann jedoch zunächst nach Rhodesien fliehen,  überlebte den Krieg und siedelte sich schließlich in Südafrika an. Für seine Schwester sollte das noch bedeutsam werden.

Martha Davids war von Beruf Krankenschwester. Sie heiratete Hermann Mannsbach und kam dadurch nach Beverungen. Für ihn war sie die zweite Frau. Da ihr Mann Diabetiker war, brauchte er regelmäßig Insulinspritzen, zudem hatte er Herzbeschwerden.

Die Familie Mannsbach war eine alteingesessene und angesehene Familie in Beverungen, die im Fellhandel tätig war. Diesen musste Hermann Mannsbach im April 1939 aufgrund der gegen jüdische Unternehmen gerichteten NS-Politik abmelden. Im Jahr zuvor gehörte er zu den Beverunger Juden, die im Zuge der sog. „Reichspogromnacht“ am 9. November 1938 in einer ungeheizten Waschküche hinter dem Rathaus eingesperrt wurden. Martha Mannsbach erreichte seine Freilassung mit Hinweis auf den bedrohlichen Gesundheitszustand ihres Mannes.

Das Ehepaar Mannsbach wurde am 28.07.1942 zusammen mit anderen Juden in Beverungen vom dort stationierten Polizeibeamten Grunert aufgefordert, ihre Sachen zu packen. Jede Person durfte dabei nur 1 Koffer mit höchstens 40 kg Gewicht mitnehmen. Der nachmalige Bürgermeister Peter Ellinghaus erzählte, dass er als Kind vor der Deportation noch Insulin aus der Apotheke zur Familie Mannsbach bringen musste.

Mannsbachs wurden eine halbe Stunde vor der Abfahrt um 19 Uhr desselben Tages von dem Polizeibeamten Grunert abgeholt und mit dem Zug nach Bielefeld gebracht, vor dort aus erfolgte etwas später der Sammeltransport mittels Viehwaggons. Am 31. Juli 1942 ge­gen Mit­ter­nacht ver­ließ der Deportationszug Da 77 Müns­ter und fuhr über Os­na­brück und Bie­le­feld nach The­re­si­en­stadt. Es war der vier­te De­por­ta­ti­ons­zug über Bie­le­feld zur „Um­sied­lung“ von Jü­din­nen und Ju­den. Sie er­reich­ten den Bahn­hof Bohušovice nad Ohří (deutsch Bauschowitz an der Eger) am 1. Au­gust. An­schlie­ßend muss­ten sie den 2,5 Ki­lo­me­ter lan­gen Fuß­marsch in das „Al­ters­ghet­to“ The­re­si­en­stadt (heu­te: Tere­zin) an­tre­ten. Die De­por­ta­ti­on zur Ver­nich­tung ha­ben nur 48 Per­so­nen über­lebt.

Wie Martha Mannsbach berichtete, wurde ihr Gepäck in einen Waggon am Ende des Zuges verladen, der jedoch bereits in Bielefeld abgehängt worden ist. Auch das Handgepäck wurde ihr bei der Ankunft in Theresienstadt abgenommen, sodass sie schlussendlich ohne irgendetwas dastand. Während des Aufenthalts im Lager Theresienstadt pflegte Martha Mannsbach ihren kranken Mann.

Theresienstadt stammte aus der Habsburgerzeit und war eine Festungsstadt. Es galt als privilegiertes Lager, dort wurde sogar ein Propagandafilm mit dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ gedreht. Das war der Schein, denn auch dort gab es zahlreiche Morde und viele Juden wurden weiterdeportiert nach Auschwitz.

Über Ihre Zeit im Lager hat Martha Mannsbach nach dem Krieg einen Bericht verfasst. Zunächst half sie im Krankenrevier, putze den Fußboden und half bei dem Waschen der Patienten. Eines Tages wurde sie zur Krankenschwester bestimmt und bekam nach einiger Zeit sogar eine entsprechende Tracht. Ihr Mann Herrmann konnte jedoch aufgrund seiner Erkrankungen nicht arbeiten.

Am 5. Mai 1945 übergab die SS das Lager einer Kommission des Internationalen Roten Kreuz, drei Tage später befreite die Rote Armee das Lager, wobei es noch zu Schießereien kam und anschließend Verletzte zu versorgen waren. Trotz der Befreiung konnten die Deportierten noch nicht sofort zurückfahren in ihre Heimatstädte, denn es drohte Typhusgefahr. Es dauerte Wochen, bis schließlich die Deportierten mit Bussen wieder in ihre alte Heimat gebracht werden sollten. So kam auch ein Bus aus dem Raum Bielefeld, welcher auch für Martha Mannsbach und ihren Mann Herrmann bestimmt war. Als dieser Bus angekommen war, musste sie schnell ihren Mann anziehen, dies konnte er nicht mehr selbst aufgrund seiner Krankheiten. Als Martha Mannsbach ihn noch einmal wusch für die Fahrt in die Heimat, verstarb er. Es war der 1. Juli 1945!

Paul Meyer aus Beverungen, ein Freund des Ehepaares, wollte zunächst bei Frau Mannsbach bleiben, fuhr dann aber doch mit dem Bus mit, während sie zunächst noch zurückbleiben musste und erneut einen Arbeitsplatz im Krankenrevier erhielt, schließlich aber auch nach Beverungen zurückkehren konnte. Neben Paul Meyer und Leopold Rosenstein war sie die einzige Überlebende unter den Beverunger Deportierten. Die drei errichteten zum Gedenken an die Opfer der Shoah auf dem jüdischen Friedhof ein Denkmal.

In der Zeit ihres Aufenthaltes im KZ verlor sie ihren Vater, ihre drei Schwestern, ihre Schwäger, Neffen, Nichten und deren Kinder. Alle ihre Verwandten waren in verschiedenen Lagern untergebracht, dabei wusste keiner etwas von dem anderen.

Als Martha Mannsbach einige Wochen nach dem Kriegsende zurück nach Beverungen kam, stellte sie fest, dass ihr Haus seit 1943 als Mittelschule genutzt wurde, denn seit dem 18.10.1943 war es im Besitz der Stadt. Die im Haus vorhandenen Möbel und Einrichtungsgegenstände wurden damals öffentlich versteigert, die dort vorhandenen Urkunden, Briefe und sämtliche Unterlagen verbrannt. Nachdem die Schule 1946 umzog, erhielt Frau Mannsbach ihr Haus zurück.

Im Jahr 1948 wanderte Martha Mannsbach zunächst nach Winnipeg (Kanada) aus, wo ihr Neffe Rudy (Rudolf) Lowenstein, Sohn ihrer Schwester Johanna Löwenstein, lebte. Von dort zog sie jedoch weiter, und zwar zu ihrem Bruder Walter nach Rhodesien. Schließlich fanden beide eine neue Heimat in Kapstadt (Südafrika). Im Jahr 1995 veröffentlichte Frau Mannsbach in dem Buch „In scared memory“ ihre Erinnerungen an die Lagerhaft in Theresienstadt.

Martha Mannsbach besuchte mehrfach Beverungen in den folgenden Jahren. Schließlich starb sie in Südafrika am 8. Juni 1998 im biblischen Alter von fast 105 Jahren. Beigesetzt wurde sie neben ihrem Bruder in Kapstadt.

Seit dem 27.01.2023 gibt es im Neubaugebiet Beverungen eine Straße namens „Martha-Mannsbach-Ring“, die an die Jüdin erinnern soll.

(Texte von Christoph Reichardt, Stadtheimatpfleger Beverungen)

IV

Gedichte

  1. Theodor Kramer (* 1. Jänner/Januar 1897 in Niederhollabrunn/Niederösterreich; gestorben am 3. April 1958 in Wien) war ein jüdischer, österreichischer Lyriker. 

Theodor Kramer

Andre, die das Land so sehr nicht liebten
War'n von Anfang an gewillt zu geh'n
Ihnen – manche sind schon fort – ist besser
Ich doch müsste mit dem eig'nen Messer
Meine Wurzeln aus der Erde dreh'n!

Keine Nacht hab' ich seither geschlafen
Und es ist mir mehr als weh zumut –
Viele Wochen sind seither verstrichen
Alle Kraft ist längst aus mir gewichen
Und ich fühl', dass ich daran verblut'!

Und doch müsst ich mich von hinnen heben –
Sei's auch nur zu bleiben, was ich war
Nimmer kann ich, wo ich bin, gedeihen
Draußen braucht ich wahrlich nicht zu schreien
Denn mein leises Wort war immer wahr!

Seiner wär ich wie in alten Tagen
Sicher; schluchzend wider mich gewandt
Hätt' ich Tag und Nacht mich nur zu heißen –
Mich samt meinen Wurzeln auszureißen
Und zu setzen in ein andres Land!

Andre, die das Land so sehr nicht liebten
War'n von Anfang an gewillt zu geh'n
Ihnen – manche sind schon fort – ist besser
Ich doch müsste mit dem eig'nen Messer
Meine Wurzeln aus der Erde dreh'n!

Zitiert nach Andre, die das Land so sehr nicht liebten - Deutsche Lyrik   Zugriff vom 27.11. 2023

 

 

 

 

  1. Zofia Romanowicz (geborene Zofia Górska; geboren am 18. Oktober 1922 in Radom,  gestorben am 28. März 2010 in Lilly en Val/Frankreich) war eine polnische Schriftstellerin und Übersetzerin, die nach dem 2. Weltkrieg nach Frankreich emigrierte. Während des Krieges diente sie dem polnischen Widerstand als Kurierin, wurde 1941 verhaftet und kam in verschiedene Konzentrations- und Arbeitslager, u.a. nach Ravensbrück.

 

Zofia Górska

Erster Augenblick – Abschied

Fasst mich nicht an den Händen, schaut mir nicht in die Augen,

Sucht mir keinen Trost und heißt mich nicht glauben.

Auf mir liegt ein schlimmer Schatten, es hält mich ein böser Kreis.

Ich werde es tragen müssen.

Alleine, wie ich weiß.

 

Ich bin allein. Niemand hilft mir mit Worten.

Allein trage ich das grausame Warten.

Und eh die Stunde kommt, mich zu töten,

Gehe ich ihr allein entgegen.

 

Lebt wohl und geht … Lasst mich allein.

Spür ich auch Tränen, ich weine nicht, nein.

Schon wartet,

Schon ruft mich mit offenen Toren

Der Garten.

 

Nachdichtung: Gabriele Kammerer

Zitiert nach arbeitsblatt_04-02_abschied.pdf (annalise-wagner-stiftung.de) Zugriff vom 27.11. 2023

 

 

 

  1. Nelly Sachs (eigentlich Leonie Sachs, geboren am 10. Dezember 1891 in Schöneberg (heute Berlin) und gestorben am 12. Mai 1970 in Stockholm). Sie war eine jüdische Schriftstellerin und Lyrikerin, Nelly Sachs erhielt 1966 den Nobelpreis für Literatur, gemeinsam mit Samuel Joseph Agnon.

 

Nelly Sachs

Chor der Geretteten

Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich -
Unsere Leiber klagen noch nach
Mit ihrer verstümmelten Musik.
Wir Geretteten,
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht
Vor uns in der blauen Luft -
Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.
Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.
Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sonst eines Vogels Lied,
Das Füllen des Eimers am Brunnen
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen
Und uns wegschäumen -
Wir bitten euch:
Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund -
Es könnte sein, es könnte sein
Daß wir zu Staub zerfallen -
Vor euren Augen zerfallen in Staub.
Was hält denn unsere Webe zusammen?
Wir odemlos gewordene,
Deren Seele zu Ihm floh aus der Mitternacht
Lange bevor man unseren Leib rettete
In die Arche des Augenblicks.
Wir Geretteten,
Wir drücken eure Hand,
Wir erkennen euer Auge -
Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied,
Der Abschied im Staub
Hält uns mit euch zusammen.

Zitiert nach Chor der Geretteten (1946) - Deutsche Lyrik Zugriff vom 27.11. 2023